Archäologie
Das Leben der mesolithischen Jäger am Plan de Frea.
Das Mesolithikum ist der Zeitabschnitt der Vorgeschichte, der sich zwischen dem Paläolithikum und dem Neolithikum abgespielt hat. Der Anfang des Mesolithikums wird im Dolomitengebiet ab 9.700 v. Chr. angesetzt, während sein Ende mit einer kulturellen Entwicklung einhergeht, die als Neolithisierung bezeichnet wird, als der Mensch begann sesshaft zu werden und Viehzucht und Ackerbau zu betreiben. Diese neue Lebensweise konnte sich aber zwangsläufig nicht überall zur gleichen Zeit durchsetzen und wird in Südtirol um 5.500 v. Chr. datiert.
Im Mesolithikum kam es zur ersten menschlichen Besiedlung der Dolomiten nach der langen Würmeiszeit, die vor 21.000 Jahren ihr Maximum erreicht hatte. Zu jener Zeit begann der mehr als 1.500 Meter dicke Eispanzer, der die Alpen bedeckte, allmählich wieder abzuschmelzen. Vor 11.000 Jahren hatten sich die Gletscher etwa bis zum heutigen Verbreitungsgebiet zurückgezogen, und die Täler waren erneut von Pflanzen und Tieren besiedelt worden. Der Mensch ist den Steinbock-, Hirsch- und Gamsherden gefolgt, die durch die Erwärmung immer weiter in die Dolomitentäler vordringen konnten.
Vor dem Neolithikum, also vor der Periode mit Viehzucht und Ackerbau, war der Mensch ausschließlich ein Jäger und Sammler. Dieser Lebensstil zwang die Jägergruppen zum Nomadismus. Vor allem in den Bergen erschöpfen sich die natürlichen Ressourcen sehr schnell, dieser Lebensraum produziert eben nicht genügend Nahrung für die Sesshaftigkeit. Während des Mesolithikums hätte eine kleine Jägergruppe ohne weiteres ausschließlich von der Jagd leben können, denn es gab genug Wild. Leider kann sich der Mensch, zum Leidwesen unserer Vorfahren, nicht nur von Fleisch ernähren. Das gilt vor allem für das Fleisch von Wild, das ziemlich mager ist. Der Mensch benötigt zusätzlich auch Fett und pflanzliche Proteine. Diese Ressourcen sind in der Natur nur sehr begrenzt verfügbar: Eine gepflückte und verspeiste Beere wird erst wieder im nächsten Jahr nachwachsen. Die Jäger mussten deshalb ständig ihren Standort wechseln, nicht nur um dem Wild zu folgen, sondern auch um essbare Pflanzen zu ernten, die in verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten reiften.
Um in diesem extremen Lebensraum bestehen zu können, braucht es ganz ausgeklügelte Überlebensstrategien. Der Mensch musste damals alles Essbare verwerten. Wild, Geflügel, Eier, Fisch, Beeren, Nüsse, Wildbohnen, Wurzeln und Pollen standen auf dem Speiseplan, und wahrscheinlich wurden auch Schnecken, Insekten und deren Larven nicht verschmäht. Die Nahrung wurde damals schon gekocht und war deshalb leichter verdaulich. Das Feuer war lebensnotwendig und wurde mit einem Bogenbohrer entzündet. Es wärmte, trocknete und war die einzige Lichtquelle.
Bedenkt man wie viel Nahrung eine einzige Familie täglich verbraucht, kann man sich vorstellen, dass die Menschen des Mesolithikums einen Großteil ihrer Zeit für die Nahrungssuche aufwenden mussten. In dieser Beziehung unterschied sich die mesolithische Gesellschaft stark von jener ihrer Vorfahren. Während der Eiszeit ernährten sich die Menschen vor allem vom Fleisch von großen Säugetieren wie Mammut, Bison und Pferd; die Jagd auf diese Tiere was ausschließlich Männersache.
Am Anfang des Mesolithikums sind die großen eiszeitlichen Säugetierfaunen ausgestorben, und so wurde das Sammeln von Wurzeln, Pflanzen, Beeren und kleinen Tieren wahrscheinlich sogar noch wichtiger als die Jagd. Diese Tätigkeit wurde vor allem von Frauen, Alten und Kindern ausgeübt, und so wurde deren Rolle gestärkt. Wie bei den heutigen Nomadengruppen, die meist aus etwa zehn Personen bestehen (Erwachsene, Alte und Kinder), wurde alles Lebensnotwendige mitgeführt.
Die mesolithischen Jägergruppen versuchten das Gewicht ihrer Ausrüstung so gut es ging zu reduzieren. Während der Steinzeit wurden Pfeilspitzen und Schneideklingen aus einem sehr harten, aber leicht zu bearbeitendem Gestein gearbeitet, dem Silex (Feuerstein). Klingen aus Silex sind sogar noch schärfer als Stahlklingen, sie werden aber schnell stumpf, deshalb muss man immer neue produzieren.
Im Paläolithikum, bis vor etwa 11.000 Jahren, waren die Silexgeräte ziemlich groß und schwer, was ihren Transport nicht gerade erleichterte. Aber schon im Epigravettien (der letzen Phase des Paläolithikums) kann man eine starke Verkleinerung der Silexgeräte feststellen.
Im darauf folgenden Mesolithikum wurden dann Mikrolithen, winzig kleine Spitzen aus Silex hergestellt, die geometrische Formen aufweisen: Dreiecke, Trapeze und Segmente. Man konnte mühelos hunderte davon in einem kleinen Lederbeutel mitnehmen.
Ganze Reihen von kaum 1 cm langen Mikrolithen wurden mit Birkenrindenpech auf Spitzen aus Hirschhorn oder Holz geklebt. Diese Spitzen wurden dann auf Pfeile montiert und waren verheerende Geschosse. Mit Bögen aus Eibenholz abgeschossen drangen sie tief in das Fleisch der Beutetiere ein. Ein Tier, das von einem „normalen“ Pfeil getroffen wird, kann noch Kilometer weit laufen bevor es verendet, der Jäger riskiert die Beute zu verlieren. Wird ein Tier aber mit einem Mikrolithpfeil durchbohrt, bleibt dieser durch die als Widerhaken fungierenden Mikrolithen im Fleisch des Tieres stecken. Sobald es an einem Baum streift, reißt der Pfeil eine Wunde auf. Das Tier verblutet schnell und kann so leicht geborgen werden.
Die Phase, bei der die Pflanzen das vom Eis freigegebene Gebiet wiederbesiedelten, war vor etwa 11.000 Jahren abgeschlossen. Das Dolomitengebiet war damals sehr wild und von einem dichten Wald bedeckt. Umgestürzte Bäume, Bäche, Muren und unüberwindbare Felswände erschwerten jede Begehung. Deshalb wanderten die steinzeitlichen Jäger vor allem oberhalb der Waldgrenze oder entlang von schmalen Pfaden, die schon vom Wild ausgetreten waren. Auch heutzutage muss man nur den Wildpfaden folgen und kann so mühelos schwer begehbares Gelände überwinden. Im Laufe der Zeit wurden diese Pfade immer häufiger vom Menschen benutzt, und so entstanden die ersten Wege.
Der mesolithische Mensch war sicher sehr gut an seinen Lebensraum angepasst, er konnte sich vor Wildtieren schützen und genügend Nahrung finden. Das Klima ist in den Bergen aber erbarmungslos, Kälte und Regen können tödlich sein. Es genügte ein herbstlicher Regen und ein Kälteeinbruch, um Kinder und alte Menschen erkranken zu lassen, nur dürftig versorgt konnte schon eine schwere Erkältung zum Tode führen. Deshalb suchte man unter großen überhängenden Wänden von großen Felsblöcken Schutz, man nennt diese Rastplätze Abri. In den Dolomiten gibt es hunderte von solchen Jägerrastplätzen. Die Spuren menschlicher Besiedlung, die man unter solchen Felsdächern finden kann, sind immer gleich: kleine mit Asche gefüllte Gruben, die Feuerstellen waren und vor allem Mikrolithen und Absplisse ihrer Bearbeitung. Außerdem findet man Silexklingen, die zum Zerschneiden der erlegten Tiere dienten und Kratzer aus dem selben Material, mit denen das Fleisch von den Fellen gekratzt wurde. Die Silexgeräte wurden dafür immer zuvor auf Griffe aus Holz oder Horn geklebt. Um sich noch besser vor Wind und Wetter schützen zu können, hat man die überhängenden Felswände mit Holzbalken abgedeckt und mit Fellen abgedichtet, so entstand eine zeltartige Konstruktion. Die Auswahl der geeigneten Felsdächer erfolgte anhand von ganz bestimmten Eigenschaften. Das Traumheim einer mesolithischen Familie bestand damals aus einem zur Sonne ausgerichteten Felsdach auf einer Anhöhe oder inmitten einer gut übersichtlichen Ebene, die eine Kontrolle auf das umgebende Gelände und auf durchziehende Wildherden ermöglichte, das Ganze mit einer Quelle ganz in der Nähe.
Der Plan de Frea
Ein Musterbeispiel für einen mesolithischen Jägerrastplatz unter einem großen Felsbrocken ist der Abri (Unterstand) Plan de Frea. Die Fundstelle befindet sich auf einer Höhe von 1930 m inmitten einer flachen Wiese im Tal, das zum Grödnerjoch/Jëuf de Frea hinaufführt. Der riesige Felsblock, unter dem sich die Fundstellen befinden, ist etwa 10 m hoch und 15 m lang. Der Brocken besteht aus Cassianer Dolomit und ist vom Sellastock heruntergebrochen. Um den Felsblock gibt es vier um einige Meter überhängende Felsdächer, unter denen die mesolithischen Jäger Unterschlupf fanden und die von ihnen wiederholt während ihrer Jagdzüge aufgesucht wurden. Die Felsdächer wurden Frea I, II, III und IV genannt.
Beim Abri Frea I, dem größten und sonnigsten Felsdach unter dem Stein, hatten die mesolithischen Jäger ein Gerüst aus Ästen und Holzbalken angebracht und dieses mit Fellen abgedeckt. Damit die Balken nicht wegrutschten, wurden sie an der Basis mit Steinen blockiert. Diese Struktur konnte man anhand von solchen regelmäßig angeordneten Steinen, die man entlang des Felsdaches ausgegraben hat, rekonstruieren. Die so entstandene hüttenartige Behausung war ziemlich geräumig und konnte mehreren Personen Schutz bieten. Auch die Trinkwasserversorgung war gewährleistet, denn in unmittelbarer Nähe gibt es eine Quelle.
Der Abri Plan de Frea war somit ein ideales Basislager für Jagdausflüge in die benachbarten Berge. Die Knochen der erlegten Tiere, die während der archäologischen Ausgrabungen geborgen wurden, stammen vorwiegend von Steinbock, Bergkaninchen und Hirsch. Von der Größe der ausgegrabenen Hirschgeweihstücke konnte man schließen, dass diese Tiere im Spätsommer und Herbst erlegt wurden, von Juli bis November. Der Silex, der für die Herstellung der Waffen gebraucht wurde, stammt vorwiegend aus dem Gebiet der Lessinischen Berge oberhalb von Verona, wo es unzählige Silexvorkommen von hervorragender Qualität gibt. Dieser Silex war sogar nördlich der Alpen verbreitet. Bei Bedarf wurde aber auch der minderwertige lokale Silex aus der Puez-Formation gebraucht. Einige Geräte aus Bergkristall stammen wahrscheinlich aus den Zillertaler Alpen.
Jahrelang haben sich die Archäologen gefragt, ob die Fundstellen der Dolomiten nur von Jägern bei ihren Jagdzügen aufgesucht wurden, während die Familien in tiefer gelegenen Lagern auf deren Rückkehr warteten, oder ob sich ganze Familienverbände aufmachten in die Berge. Am Plan de Frea konnte dieses Geheimnis gelüftet werden, denn während der Grabung kamen zwei menschliche Milchzähne zum Vorschein. Offensichtlich hatten die Jäger ihre Familien mitgebracht. Der Plan de Frea war folglich ein Basislager, wo sich Frauen, Kinder und ältere Menschen aufhielten und den verschiedenen Tätigkeiten einer mesolithischen Familie nachgingen, während die Männer mit der Jagd beschäftigt waren. Die Frauen kümmerten sich um die Kinder, präparierten die Felle, kochten, reparierten die aus Leder und Fellen bestehende Kleidung und sammelten alles Essbare, was man am Plan de Frea finden konnte. Die Alten zeigten ihren Enkeln, wie man den Silex bearbeitete um Mikrolithen herzustellen, wie man Birkenrindenpech gewinnen konnte und wie man die Äste gerade bog, damit man sie zu Pfeilen verarbeiten konnte. Außerdem wurde den Jungen beigebracht, wie man Bögen aus Eibenholz herstellte und wie man aus Pflanzenfasern oder Tiersehnen Schnüre drehte, die man als Bogensehnen brauchen konnte. Am wichtigsten war aber das Training beim Bogenschießen, es handelte sich schließlich um eine Gesellschaft von Bogenschützen. Am Abend kamen die Männer von der Jagd zurück, und alle versammelten sich am Lagerfeuer, wo die Frauen schon das Abendessen zubereitet hatten. Nach dem Essen begannen die Männer von ihren spannenden Jagdabenteuern zu erzählen, und sicher übertrieben sie dabei genau so wie alle Jäger aller Zeiten. Danach wurde bis spät in die Nacht gespielt, gesungen und getanzt, erst dann begab man sich in die Hütte für die Nachtruhe. Im Grunde genommen hat sich seither nicht all zuviel verändert. Das Feuer durfte auch während der Nacht nicht ausgehen, sonst konnten sich Raubtiere wie Wolf und Bär dem Lager nähern.
Auch damals konnte man das Herz einer Frau mit einer Kette aus der Meeresschnecke Columbella leichter erobern, man hat nämlich solche durchbohrte Schnecken am Plan de Frea ausgegraben. Das Leben war vom Rhythmus der Natur geregelt und der Mensch war ein Teil von diesem System, er verbrauchte nur das, was er zum Überleben brauchte, ganz im Gegensatz zu heute. Alle wussten, dass die Ressourcen begrenzt waren und dass das Überleben von einer intakten Natur abhing. Ein unnötig getötetes Tier konnte eine Mahlzeit weniger bedeuten.
Die Jagdtechniken waren einfach und sehr effektiv. Die Bogenschützen lauerten ihrer Beute bei Quellen, Waldlichtungen und vor allem bei Passübergängen auf. Hatte sich das Wild erst ausreichend genähert, dann wurden die Mikrolithpfeile abgeschossen. Wenn mehrere Jäger am Werk waren, dann konnten einige von ihnen die Tiere in Richtung Passübergang oder Sumpfgebiet treiben, wo die anderen schon schussbereit auf die Beute warteten. Die Jäger mussten dann nur der Blutspur folgen und aufpassen, dass sie nicht von einem in Todesangst geratenen und um sein Leben kämpfenden Tier verletzt wurden.
Der Plan de Frea war für die Jagd sehr geeignet, während der Ausgrabung von 1994 konnte ich beobachten, wie jeden Morgen mehrere Rehe ganz nahe am Felsblock vorbeizogen, ein Pfeilschuss hätte genügt, um mir das „Frühstück“ zu besorgen. Bei den archäologischen Ausgrabungen wurden die Felsdächer Frea I, III und IV völlig ausgegraben, während Frea II nur angeschnitten wurde. Die Grabung wurde stratigraphisch durchgeführt, die gesamte Erde wurde gewaschen, gesiebt und was übrig blieb mit der Hand durchsucht, um auch nicht den winzigsten Fund zu verlieren. Die organischen Funde wie Samen und Kohlestückchen wurden beim Schwemmen geborgen und es wurden reichlich Erdproben entnommen.
Anhand der Radiokarbonmethode (auch 14 C-Methode genannt), bei der organische Materialien wie Kohle oder Knochen datiert werden, konnte ermittelt werden, dass die Felsdächer des Plan de Frea von der ältesten bis zur jüngsten Phase des Mesolithikums, also vom Sauveterrien um 9.000 v. Chr. bis zum Castelnovien um 5.000 v. Chr. immer wieder bewohnt wurden. Nachdem diese Fundstelle also für fast 4.000 Jahre als Jägerrastplatz diente, wurde sie beim Einsetzen des Neolithikums verlassen.
Die Auflassung von solchen Abris kann man mit dem tiefen gesellschaftlichen und kulturellen Wandel erklären, der sich zu dieser Zeit in Europa vollzog. Die Sesshaftigkeit, der Ackerbau und die Viehzucht gestatteten es den Menschen nicht mehr, ihre kleinen Siedlungen über längere Zeiträume zu verlassen. Außerdem ist das Fleisch von Zuchtvieh viel fetter und nahrhafter als das von Wild. Die Jagd wurde so plötzlich, zum allerersten Mal in der Menschheitsgeschichte, nicht mehr lebensnotwendig. Erst die Entwicklung von Formen der Almwirtschaft während der Bronzezeit um 1.500 v. Chr. machte das Hochgebirge für den Menschen wieder attraktiv. Tatsächlich kommt es während dieser Zeit zu einer neuerlichen Besiedlung der Felsdächer des Abri Plan de Frea. Danach gibt es keinerlei Siedlungsspuren mehr.
Im Gemeindegebiet von Wolkenstein gibt es mehrere Abris, vor allem bei der Steinernen Stadt unter dem Langkofel, bei Tramans, im Chedultal und beim Pra da Ri im Langental. Auch bei diesen Fundstellen wurden vereinzelt Silexgeräte und prähistorische Scherben gefunden, dies lässt auf eine sehr lange Siedlungsgeschichte schließen. Leider fehlen aber immer noch systematische Grabungen.
Die Fundstelle am Plan de Frea wurde 1977 von Franco Prinoth, Janmatie Moroder und Markus Delago entdeckt. Von 1978 bis 1981 folgten drei Grabungskampagnen, die letzte 1994. Die Grabungen wurden von der Universität Ferrara unter der Leitung von Prof. Alberto Broglio durchgeführt, in Zusammenarbeit mit dem Amt für Bodendenkmäler der Provinz Bozen, dem Istitut Ladin „Micurà de Rü“ und Dr. Reimo Lunz vom Stadtmuseum Bozen.
© Herwig Prinoth