Wolkenstein im Laufe
der Jahrhunderte

Die ladinische Sprache

Doi mutons che liej "La Usc di Ladins", zaita che vën ora dal 1991 un n iede al’ena

Die ladinischen Täler konnten trotz der Verlockungen des Fremden und der radikalen wirtschaftlichen Umwälzungen einen Teil ihrer besonderen Eigenart erhalten, in erster Linie ihre Sprache.

Das Ladinische: Entwicklung und Perspektiven
Eine von den großen kulturellen und politischen Strömungen unbeeinflusste bäuerliche Lebensweise hat jahrhundertelang die ladinischen Täler geprägt. Erst im 20. Jahrhundert werden auch diese Täler zur Gänze vom europäischen Fortschritt erfasst. Vor allem der Tourismus hat den Lebensstil radikal verändert. Und dennoch konnten diese Täler, wenngleich sie sich den großen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen nicht ganz entziehen konnten, typische und sie kennzeichnende Eigenheiten bewahren, darunter besonders ihre Sprache. Die Dolomitenladiner, auch Sellaladiner genannt, bewohnen jene Täler, die vom Bergmassiv des Sellastocks (Mëisules: mit 3152 m ist der Piz Boè die höchste Erhebung) strahlenförmig auseinander laufen. Es sind dies das Grödental (Gherdëina), das Gadertal (Val Badia, mit dem Seitental Enneberg: Mareo), das Fassatal (Fascia) mit der Ortschaft Moena; Buchenstein (Fedom) mit dem Gemeindegebiet von Colle Santa Lucia (Col) und Cortina d’Ampezzo (Ampëz). Das ladinische Siedlungsgebiet ist administrativ auf 18 Gemeinden, drei Provinzen und zwei Regionen aufgeteilt. Hinzu kommen noch drei Fraktionen der Gemeinde Kastelruth (Überwasser, Pufels und Runggaditsch) die vorwiegend von Ladinern bewohnt sind. Die ladinischen Täler sind durch das Grödner Joch (Jëuf de Frea, 2121 m), das Sella Joch (Jëuf de Sela, 2242 m), das Campolongo Joch (Ciaulonch, 1875 m) und das Pordoi Joch (Pordói, 2242 m) miteinander verbunden. Die Pässe von Valparola (2192 m) und Falzarego (Falzares, 2105 m) verbinden Cortina mit dem Gadertal. Die Gesamtbevölkerung des ladinischen Dolomitengebietes umfasst etwa 35.000 Einwohner, von denen ungefähr 30.000 Ladinisch sprechen. An den Zufahrtsstraßen nach Gröden sticht die dreisprachige Ortsbeschilderung ins Auge: Ladinisch, Deutsch und Italienisch. Die ladinischen Gemeinden stellen sich also dreisprachig vor, der Hauptort des Grödentales etwa mit: Urtijëi - St. Ulrich - Ortisei. Darüber hinaus gibt es auch dreisprachige Bezeichnungen für größere Ortschaften und Städte außerhalb Ladiniens (Makrotoponomastik): Brixen - Bressanone - Persenon; Klausen - Chiusa - Tluses; Bozen - Bolzano - Bulsan; Trient - Trento - Trënt. Die Mikrotoponomastik in den ladinischen Gebieten ist hingegen vorwiegend ladinisch. Was die Ladiner heute am markantesten nach außen hin kennzeichnet, ist zweifellos ihre Sprache. Das Ladinische ist eine romanische Sprache, die traditionell zusammen mit dem Bündnerromanischen und dem Friaulischen zum Rätoromanischen gezählt wird. Die Bezeichnung ladin leitet sich vom lateinischen Adjektiv ‘LATINUS’ ab. Das Latein, das die Räter, Noriker und Karnier von den römischen Eroberern hörten, war sicherlich nicht das klassische Latein der Gelehrten und Literaten, sondern das Vulgärlatein, d.h. das gesprochene Alltagslatein der gewöhnlichen Leute. Dieses Latein, das nicht normiert und daher starken Veränderungen ausgesetzt war, entwickelte sich in den Provinzen des römischen Imperiums eigenständig weiter und bildete so die Grundlage für die heutigen romanischen Sprachen. Daneben lebte aber auch das klassische Latein weiter, das für viele Jahrhunderte die Sprache der westlichen Kultur blieb. Für die Romanisierung unserer Gebiete war wahrscheinlich die Präsenz von Beamten, Offizieren, Händlern und Soldaten aus der Gegend von Aquileia, der damaligen Hauptstadt der Venetia, entscheidend, zumal sie ihre eigene regionale Variante des gesprochenen Lateins mitbrachten und damit das bestehende Substrat stark beeinflussten. Die von Rom unterworfenen Völker gaben ihre ursprüngliche Sprache mit deren Wortschatz und deren phonetischen sowie syntaktischen Eigenheiten nicht gänzlich auf. In das gesprochene Latein jedes unterworfenen Volkes drangen so sprachliche Besonderheiten der jeweiligen lokalen sprachlichen Varietäten ein und formten es um. Das Dolomitenladinische ist stark geprägt von jenem Latein, das in den Jahrhunderten des Römischen Reiches auf beiden Seiten des zentralen und östlichen Alpenhauptkammes und des Alpenvorlandes vorherrschte. Das Ladinische bewahrt - wenn auch in der für jede Talschaft eigenen Ausprägung - zahlreiche sprachliche Eigenheiten, die ganz allgemein für den gallo-romanischen Raum kennzeichnend sind. Nach dem Zerfall des Römischen Reiches (476 n. Chr.) wurden in den latinisierten Alpenregionen weitere sprachliche Einflüsse wirksam: Aus dem Norden durch alemannische und bairische Mundarten, aus dem Osten durch slawische Mundarten, aus dem Süden durch Sprachformen, die aus dem Vulgärlatein hervorgegangen waren, und Jahrhunderte später durch das Italienische als Sprache der Kultur.
Während der Zeit der Völkerwanderung, als Alemannen und Bajuwaren nach Süden vorstießen und Slawen von Osten her einfielen, ging das romanische Sprachgebiet zurück, weil die Bevölkerung zum Teil mit den Eroberern verschmolz oder durch sie assimiliert wurde. Die territoriale Einheit von Dolomitenladinern und Bündnerromanen wurde dadurch auseinander gerissen. Im 15. Jahrhundert annektierte die Republik Venedig das Friaul und das Cadore. Damit begann der Vorstoß des Venezianischen entlang des Piave-Tales, womit auch die Trennung der Dolomitenladiner von den Friaulern besiegelt war. Die ladinische Sprache befindet sich seither in einem stetigen Rückzug, und ihr heutiges Sprachgebiet erscheint wie ein zerstückeltes Mosaik. Besonders negativ für die Entwicklung einer ladinischen Einheit wirkte sich das Fehlen eines städtischen Zentrums aus, das als Fokalisationspunkt für die gemeinsame politische, kulturelle und sprachliche Entfaltung hätte dienen können.
Die Ausdrücke „ladinisch“ bzw. „rätoromanisch“ beziehen sich nicht auf eine bestimmte Einzelsprache, sondern fassen mehrere Varietäten zu einem breiter angelegten linguistischen System zusammen, das durch Gemeinsamkeiten in Phonetik, Morphologie, Syntax und Wortschatz gekennzeichnet ist. Die zum Rätoromanischen gezählten Varietäten – das Dolomitenladinische, das Rätoromanische des Schweizer Kantons Graubünden und das Friaulische – sind auf drei voneinander getrennte Sprachgebiete aufgeteilt. Das impliziert aber nicht von vornherein ein unmittelbares Verständnis zwischen ihren Sprechern. Im Übrigen sollte der Begriff „rätoromanisch“ nicht mit dem Ethnonym der „Räter“ in Beziehung gesetzt werden. Denn ein guter Teil des rätoromanischen Sprachgebietes war gar nicht von den Rätern bewohnt und gehörte auch nicht der römischen Provinz Raetia an, man denke nur an das Buchenstein; das heutige Friaul war davon überhaupt völlig ausgeschlossen.
In ganz Ladinien haben sich sogenannte „alpine Wörter“ erhalten (fälschlicherweise auch als „rätische Wörter“ bezeichnet). Es handelt sich hierbei um vorrömische Wörter, die in dem sich herausbildenden alpinen Vulgärlatein überlebt haben, so etwa barantl (Latsche, Legföhre), brënta (Bottich), ciamorc (Gämse), crëp (Berg), dascia (Tannenzweige mit Nadeln), nida (Buttermilch), roa (Steingeröll, Mure).
Einige linguistische Merkmale des Ladinischen (im Folgenden anhand des Grödnerischen aufgezeigt) sind: die Palatalisierung von lateinisch CA und GA, wie in bocia ‘Mund’ < BUCCA(M) oder cian ‘Hund’ < CANE(M); die Beibehaltung der lateinischen Konsonantenverbindungen von CL, FL, PL in Wörtern wie tle ‘Schlüssel’ < CLA-VE(M) (die lateinische Konsonantenverbindung CL- wird im Ladinischen zu [tl-]), fla ‘Atem’ < FLA-TU(M), plajëi ‘gefallen’ < PLACE-RE; die Reduzierung (Degeminierung) der Doppelkonsonanten (Geminaten) zu einfachen Konsonanten: flama ‘Flamme’ < FLAMMA(M); tiera ‘Erde’ < TERRA(M); die Delabialisierung von lateinisch QUA zu [ka]: QUATTUOR > cater ‘vier’; die Erhaltung der Endung -(e)s für den Plural maskuliner und femininer Substantive: i mulins ‘die Mühlen’, la ciampanes ‘die Glocken’.
In Gröden ist die Dreisprachigkeit nunmehr eine soziolinguistische Tatsache: Zum Ladinischen kommen nämlich das Deutsche und das Italienische hinzu. Ein beträchtlicher Anteil der ladinischsprachigen Bevölkerung spricht so im Laufe eines Tages abwechselnd Ladinisch, Deutsch und Italienisch. Seit einigen Jahren hat überdies auch das Englische entscheidend an Bedeutung gewonnen.
Der Tourismus hat in den letzten Jahren den Zuzug von Personen aus europäischen und außereuropäischen Ländern massiv angekurbelt, sei es aus Arbeitsgründen als auch durch Heirat. So sind zwischen den Gipfeln der Dolomiten zuweilen das Spanische, slawische oder auch „exotische“ Sprachen zu hören. Auch herrscht nicht mehr ausschließlich Endogamie: In den letzten Jahren haben nicht wenige Frauen unterschiedlicher nationaler Herkunft Einheimische geheiratet. Und schließlich eignen sich mehr und mehr deutsche und italienische Muttersprachler eine gute Sprachkompetenz des Ladinischen an. Das Schulsystem in den ladinischen Ortschaften der Provinz Bozen spiegelt die aufgezeigte Mehrsprachigkeit sehr deutlich wider: Ladinisch, Italienisch und Deutsch sind sowohl Unterrichtsfächer als auch Unterrichtssprachen; dazu kommt Englisch als weiteres Unterrichtsfach hinzu. Ein Ministerialdekret aus dem Jahr 1948 legte den Grundstein zur Einführung der paritätischen Schule in den ladinischen Ortschaften Südtirols. Der Unterricht erfolgt seither auf der Grundlage eines paritätischen Modells: Ein Teil der Schulfächer wird in deutscher Sprache unterrichtet, der andere Teil in italienischer Sprache. In der Pflichtschule ist das Ladinische Pflichtfach. Ladinisch wird obligatorisch als Fach unterrichtet und in unterschiedlichem Umfang auch als Unterrichts- bzw. Behelfssprache in allen Schulstufen eingesetzt. Seit 1989 ist das Ladinische in Südtirol neben dem Deutschen und dem Italienischen als dritte Amtssprache anerkannt. In den ladinischen Tälern Gröden und Gadertal ist die öffentliche Verwaltung seither gesetzlich verpflichtet, einen Großteil ihrer öffentlichen Kundgebungen sowie administrativen Akte auf Deutsch, Italienisch und Ladinisch zu verfassen. Das Ladinische Kulturinstitut, das im Gadertal und in Gröden tätig ist, hat seinen Namen vom gadertaler Geistlichen Micurà de Rü, zu Deutsch Nikolaus Bacher. Geboren wurde er 1789 in Armentarora, wie St. Kassian im Gadertal damals noch hieß, und starb 1844 in Wilten bei Innsbruck. Der Geistliche war ein Vorreiter der ladinischen Linguistik. Im Jahre 1833 arbeitete er als erster eine ladinische Grammatik aus mit dem Titel „Versuch einer Deütsch-Ladinischen Sprachlehre“, mit der Absicht, Richtlinien für eine einheitliche Schriftsprache für alle dolomitenladinischen Täler zu formulieren. Sein Versuch war allerdings nicht von Erfolg gekrönt. Bis heute hat die heftig und auch kontrovers diskutierte Frage einer gemeinsamen Koiné, genauer gesagt einer gemeinsamen Schriftsprache nicht an Aktualität verloren. Am 23. September 1988 beauftragten die beiden ladinischen Kulturinstitute „Micurà de Rü“ und „Majon di Fascegn“ Heinrich Schmid (1921-1999), Universitätsprofessor am Romanischen Seminar der Universität Zürich, mit der Ausarbeitung der Leitlinien für eine standardisierte gemeinsame Schriftsprache. Schmid ist auch der Vater des rumantsch grischun, der gemeinsamen Schriftsprache der Bündnerromanen in der Schweiz. Das zentrale Kriterium für die Ausarbeitung dieser einheitlichen Schriftsprache besteht im Wesentlichen im Vergleich der einzelnen Idiome. Damit werden in einem ersten Schritt Gemeinsamkeiten und Abweichungen zwischen ihnen erschlossen. In einem weiteren Schritt wird dann die sich daraus ergebende häufigste Variante für ein bestimmtes linguistisches Merkmal oder Phänomen ausfindig gemacht und als bester Vertreter aller Varietäten in die Eingangssprache aufgenommen. Zunächst wurde diese Sprache mit dem Namen „ladin dolomitan“ bezeichnet, später dann mit „ladin standard“. Bezüglich ihrer Akzeptanz, ihrer konkreten Anwendung und ihrer Ausarbeitung bestehen vor dem Hintergrund der komplexen soziolinguistischen Realität der ladinischen Täler nach wie vor unterschiedliche Meinungen. Auf administrativer Ebene wird das „ladin standard“ nicht offiziell verwendet. Über sein Schicksal haben die Institutionen und die ladinische Bevölkerung zu entscheiden. Ohne die nötige Überzeugung und Unterstützung durch die Sprecher wird dieses Projekt freilich dazu verurteilt sein, weiterhin im „Limbus“ der guten, aber nicht umgesetzten Absichten verharren zu müssen.
Die kleine ländlich und bäuerlich geprägte ladinische Welt führte jahrhundertelang abseits der großen Verbindungswege und damit beinahe isoliert ein mehr oder weniger gleichförmiges Leben. Im Laufe der Zeit und insbesondere im Laufe des 20. Jahrhunderts nahmen aber die wirtschaftlichen und die sprachlich-kulturellen Kontakte mit den angrenzenden italienisch- und deutschsprachigen Gebieten zu und führten zu tiefgreifenden Veränderungen. Auch eine Sprache kann sich unter solchen Bedingungen verändern und dabei riskieren, verwässert zu werden, wenn die Sprachgemeinschaft einem starken sozialen, kulturellen und ökonomischen Wandel ausgesetzt ist. Die Sprache wird aber so lange erhalten bleiben und sich weiterentwickeln können, so lange sie von den Sprechern jeden Alters wohlwollend aufgenommen und gepflegt wird.

Familiennamen
Die Eindeutschung der Familiennamen ist eine Praxis, die schon lange üblich ist, vor allem seit Maria Theresia (1717-1780). In Gröden hat der Name Moroder seinen Ursprung in [cësa] mureda ‘gemauertes Haus’. Das Wort mureda entspricht der Form des Partizips Perfekt des Verbs muré, das auf das lateinische Verb MURA-RE zurückgeht, seinerseits abgeleitet vom lateinischen Substantiv MU-RUS ‘Mauer’. Am Rande sei bemerkt, dass in vergangenen Zeiten die Häuser in den Bergen vorwiegend aus Holz gebaut waren. Die grödnerische Form Mureda ist erst seit den späten 1930er Jahren wieder in Verwendung und ist als Nachname auf wenige Familien beschränkt. Die mit dem Personensuffix -er eingedeutschte Form Moroder hat hingegen weite Verbreitung erfahren. Auch in Gröden stammen viele Nachnamen von Personennamen ab, nicht selten aber auch von Namen für Höfe, Wiesen und Felder: Ciaslat > Kasslatter; Costa > Kostner; Jan [zˇan] > Sanoner/Senoner; (L)Inacia > Vinatzer; Larcionëi/Larciunëi > Lardschneider; Murada/Mureda > Moroder; Plan > Ploner; Rungaudie/Runcaudie > Runggaldier.

Das Toponym Sëlva
Der ladinische Ortsname Sëlva hat seinen Ursprung im lateinischen Gattungsnamen SILVA ‘Wald’. Ursprünglich wurde im Grödnerischen die Bedeutung ‘Wald’ mit dem Ausdruck sëlva wiedergegeben; dieser wurde dann aber durch das Substantiv bosch [bòÿk] ersetzt. Die deutsche Bezeichnung der Ortschaft stammt vom Gericht Wolkenstein und der gleichnamigen Adelsfamilie. Der Sitz des Gerichtes war die Burg Wolkenstein (Ciastel de Val). An den Felswänden des Stevia am Eingang zum Langental (Val) ragt sie als Ruine der Grafen von Wolkenstein noch heute in die Höhe.


Marco Forni